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Andere zu ertragen, Andersdenkende zu tolerieren, ist manchmal Schwerstarbeit. Das schließt ein, ihnen zuzuhören. Und schon hat sich das Motto „leben und leben lassen“ als ein musikalisches entpuppt. Denn Zuhören ist das Wichtigste beim Musik machen, nicht nur für den Hörer, sondern auch für den Spieler. Denn der Spieler ist immer auch Hörer, und was der Spieler nicht hört, das hört der Hörer schon lange nicht.
Beim Improvisieren gilt das erst recht. Erst das Hören auf sich selbst und auf die Anderen schafft überhaupt die Voraussetzungen für jenes dichte Kommunikationsnetz, das improvisatorische Abläufe so vielsagend macht. Eine weitere notwendige Voraussetzung ist ein gemeinsamer (musikalischer) Sprachraum, in dem Verständigung möglich ist. Das muss beileibe kein Muttersprachraum sein. Das Erlernen von Fremdsprachen erweitert auch hier den Horizont. Mit dem Erwerb von Fremdsprachen entsteht die Möglichkeit, die Gastfreundschaft anderer Kulturen zu genießen und selber zum Gastgeber zu werden.
Nicht nur erfahrene Improvisationskünstler sind die beiden Saxophonisten. Sie verfügen außerdem über die Begabung, Räume und Orte musikalisch zu porträtieren. Was wunder, dass sie ständig auf der Suche nach dem Besonderen sind, nach räumlichen Bezugspunkten, die Energie ausstrahlen, die ins Zeitempfinden eingreifen, die Menschen verwandeln, sie aus der Gegenwart, aus dem Alltag herausheben, mitunter auch katapultieren.
Dass ihr musikalisches Forscherinteresse eines Tages sich auf sakrale Räume, auf heilige Orte, erstrecken würde, ist naheliegend.
Und so machten sie sich auf den Weg, denn noch immer ist das Reisen eine der kreativsten Arten des Lernens und der Bildung. Sie machten sich auf in alle Welt, ohne dabei die Grenzen Deutschlands zu überschreiten. Sie erkundeten die spirituelle Landschaft unserer Republik. Prominente Orte steuerten sie an, etwa die Wittenberger Stadtkirche, deren religiösen Paukenschläge ein europaweites politisches Erdbeben zur Folge hatten, oder den Kaiserdom zu Worms, dieses steinerne Moment des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Sie suchten die Augsburger Synagoge auf, die vom Feuersturm der Novemberpogrome, dem Auftakt zum Völkermord an den europäischen Juden, weitgehend verschont geblieben ist. In die Osmanische Herberge, das Sufi-Zentrum in der Eifel, kehrten sie ein. Zum Sri Kamadchi Ampal Tempel in Hamm pilgerten sie, um den hinduistischen Gottheiten ihre Aufwartung zu machen. Der nördlichste Punkt ihrer Reise war die Hansestadt Hamburg. Dort wurden sie im Tibetisch-Buddhistischen Meditations- und Studienzentrum willkommen geheißen.

Adolphe Sax und sein großer Wurf

Die Leptophonics sind Spezialisten für Begegnungen der besonderen Art. Ihre Saxophone erweisen sich als ideale Gefährten für Reisen in verschiedene Kulturräume, denn sie sind, obwohl hauptsächlich im Jazz eingesetzt, in verschiedenen Kulturen zu Hause. Der Belgier Adolphe Sax hatte seine Erfindung am 21. März 1846 (am 161. Geburtstag Johann Sebastian Bachs) unter der Nummer 3226 in Frankreich patentieren lassen. Dem Klang der Klarinette nachempfunden, aber viel robuster als sie, war sein Saxophon prädestiniert für „open-air-events“, auch bei unwirtlichen Witterungsverhältnissen, so dass es schnell Eingang in die Militärkapellen fand. Im Sinfonieorchester, obwohl vom Erfinder dafür vorgesehen, konnte es sich keinen Stammplatz erobern. Komponisten wie Maurice Ravel oder Alban Berg verwendeten es trotzdem gerne. Der Siegeszug des Jazz, der improvisierten Musik, war zugleich der Siegeszug des Saxophons, das nun, als unbehaustes Instrument, in vielen Genres zu Hause ist und sich auch nicht von Tempeln und Gotteshäusern aller Art schrecken lässt.

„Vermessungstechnik“ – radiästhetisch und musikalisch

Die Tradition der Saxophone und die Tradition der Leptophonics haben sich bei der „improvisatorischen Erkundung“ sakraler Räume zu einem vielversprechenden Erfahrungsreservoir vereinigt. Dieses Reservoir ist in erster Linie musikalischer Art. Als (musikalische) Dialogfähigkeit birgt es zahlreiche Möglichkeiten der Begegnung.
Hier kommt der dritte im Bunde ins Spiel. Neben den beiden Saxophonisten Andreas Gummersbach und Andreas Kaling ist Gilbert Bender fast immer mit von der Partie. Er ist zwar nicht zu hören, doch seine Arbeit fließt ein in das akustische Endergebnis. Der Radiästhet Gilbert Bender ist Künstler und Rutengänger. Sein Credo: Körper, Ort und Wahrnehmung sind drei Elemente einer Gesamtheit, die sich gegenseitig durchdringen. Die Korrespondenzen zwischen Körper, Ort und Wahrnehmung können als Kunstwerk im Prozess aufgefasst werden. Während für die beiden Musiker kein Zweifel daran besteht, dass sie verschiedene Energiefelder erfühlen können, die sich auf die von ihnen hervorgebrachten Klänge auswirken, ist Gilbert Bender davon überzeugt, mit seinen Geräten solche Felder aufspüren, lokalisieren und vermessen zu können. Er liest Räume und ihre Auswirkungen auf Menschen wie Musiker Partituren. Seinen Arbeitsmethoden und Auffassungen fühlen sich beide Musiker nah. Für alle drei steht außer Frage, dass sie, auch wenn sie sich verschiedener Methoden bedienen, an einem gemeinsamen Projekt arbeiten. Sie nehmen mit ihrer Feinfühligkeit Räume wahr und reagieren auf sie. Sie begreifen sich als Medien, über die Raumprofile zum Ausdruck kommen. Sie sind Seismographen, die Schwingungen registrieren, und ihre Instrumente zeichnen die Schwingungskurven auf. Den beiden CDs sind diese Kurven eingebrannt.

Klangprotokolle

Die in den verschiedenen sakralen Räumen üblichen Lieder und Gesänge sind nicht spurlos an den Improvisationskünstlern vorüber gegangen.
„Die Marseillaise der Bauernkriege“ – so nannte Heinrich Heine das bekannteste Lied von Martin Luther „Ein feste Burg ist unser Gott“ – charakterisiert die Silhouette der Wittenberg-Musik, während Andreas Gummersbach im Kaiserdom zu Worms am Rhein das gregorianische „Tu es Petrus“ anstimmt und die Saxophone zu luziden Kommentaren animiert.
Im Hammer Hindu-Tempel erweist die Musik dem Tempelgesang „Sri Gananatha“ ihre Reverenz, während im imposanten Kuppelbau der Augsburger Synagoge „Shalom alejchem“ schluchzend den Frieden herbei sehnt.
Im Tibetischen Tempel zu Hamburg improvisieren die Musiker auch in der Instrumentenwahl, greifen auf Trommel und Gong zurück, die sie vorfinden, und lassen deren Zärtlichkeit in feinsinnige Dialoge mit den Saxophonen münden.
In der Osmanischen Herberge, dem Sufi-Zentrum in der Eifel, entstehen Klänge der Behaglichkeit, die einer ausgesuchten Gastfreundschaft geschuldet sind. Der Sufismus, eine mystische Bewegung, älter als der Islam, fühlt sich dem sunnitischen Islam von allen Religionen am nächsten, heißt jedoch Musiker und Musik in seinen Gebetsräumen willkommen, während es – analog zum Bilderverbot in den Moscheen – für Muslime unvorstellbar ist, in ihren Gotteshäusern Musik zu spielen. Entsprechend sind Moscheen für die Leptophonics Tabuzone.
Verspielt in Hamburg, zornig in Wittenberg, nachdenklich und verwehend in Augsburg, herausfordernd in Worms – jeder Raum mobilisiert einerseits radikal subjektive Befindlichkeiten in den Interpreten, andererseits hat jeder Raum sein ureigenes Klangprofil, das mit ganz persönlichen Ausdrucksformen in ganz unvorhergesehene Dialoge treten kann. Während die Musiker in Worms das Gefühl hatten, dem Raum kaum gewachsen zu sein, sie sich ohnmächtig dem enormen Nachhall gegenüber wähnten, gaben sie dem Aufnahmegerät eine gut viertelstündige Improvisation zu Protokoll, die zu den bemerkenswertesten Musiken auf den CDs zählt und in voller Länge dokumentiert ist.

Gewalt oder Versöhnung

Protestanten, Katholiken, Juden, Hindus, Buddhisten, Sufis (dem Islam nahestehend) – alle haben sie den Leptophonics Einlass gewährt. Und die im besten Sinne naive Neugier der Saxophonisten hat dieser „interreligiösen“ Gastfreundschaft eine bewegende Musik gewidmet. Die „Einfühlungsspezialisten“ interessierten sich weniger für konfessionell-dogmatische Unterschiede, als vielmehr für die Unterschiede in den Empfindungen, die die verschiedenen sakralen Räume just in dem Moment, als sie dort waren und improvisierten, in ihnen persönlich auslösten.
Fast jede Religion ist unheilvoll verstrickt zwischen zwei Potentialen, dem Gewaltpotential und dem Versöhnungspotential. Neugier auf Unterschiede ist besser, als dem, der sich unterscheidet, den Kopf abzuschlagen. Der Neugier nachgeben heißt, sich auf in die Fremde zu machen, auf dass sie aufhöre, fremd zu sein. Der Neugierige ist kein Eroberer. Der Neugierige weiß, dass er die Wahrheit nicht für sich gepachtet hat. Neugier ist ein wirksames Serum gegen Fundamentalismus jeder Spielart.
Die Leptophonics haben sich bei ihrer spirituellen Forschungsreise auf die Spur des Versöhnungspotentials gesetzt. Insofern ist der Titel „Spiritual Unity“ ein langer sehnsuchtsvoller Ruf.